Und täglich grüßt die Nutria - ein Lernhalbjahr

Nutrias sehen ein bisschen so aus wie übergroße Meerschweinchen. Sie leben an Wasserstellen mitten in Hamburg. Wir begegnen ihnen regelmäßig, wenn wir durch´s Quartier in Wilhelmsburg laufen.

 

Zu Beginn löste das bei uns eine gewisse Faszination aus, inzwischen gehören sie zu unserem Alltag. So wie vieles andere: Wir kennen nun alle Straßennamen im Quartier, wir wissen, wovor die Kinder Angst haben und wie selbstgemachte türkische Manti schmecken. Wir haben die kennen gelernt, die sich schon länger im Quartier engagieren und fühlen mit manchen schon eine tiefe Verbundenheit. Ja, wir sind angekommen im Viertel. Wir gehören jetzt irgendwie dazu.

 

Ein halbes Jahr sind wir nun schon unterwegs auf unserer Fresh X-Reise. Ein Lernhalbjahr. Die Theorie im breiten Spektrum von Theologie, Sozialer Arbeit, Projektgründung und Fresh X bringen wir ausreichend mit. Aber verstehen können wir sie eigentlich erst jetzt so richtig – im echten Leben. Die Praxis lehrt uns Vieles, was wir vorher nur erahnen konnten. Ein kleiner Auszug aus unserem Lerntagebuch:

  

>> Ohne Raum und als „Fremde“ von außen sind wir Gäste im Quartier. Als diese werden wir eingeladen zum Kaffee ins Wohnzimmer, dürfen Räume von anderen benutzen und sind dankbar für diese Gastfreundschaft. Aber zugleich sind wir auch Gastgebende. Wir laden Kinder zum Kidsklub ein und gestalten mit mit unseren Herzensthemen. Gast und Gastgeber:in – das ist ein Geben und Nehmen. Ein echtes Miteinander fernab von Hierarchie und Macht, das wir in den letzten Monaten sehr zu schätzen gelernt haben. Der Theologe Theo Sundermeier nennt das Konvivenz: Nachbarschaftliches Zusammenleben als eine Hilfs-, Lern- und Fest-Gemeinschaft. Das erleben wir.

 

>> Überrascht sind wir über unsere Fremdsprachen-Kompetenz. Türkisch, albanisch, indisch – diese im Quartier präsenten Sprachen können wir leider nicht. Aber wir sprechen fließend kindisch, kirchisch, organisatorisch, elterisch oder multireligiösisch. Schon von Beginn an war uns klar, dass wir als Übersetzer:in unterwegs sind. Und nun merken wir, was das bedeutet. Es war bewegend, als wir vor einiger Zeit das christliche Osterfest übersetzt haben als ein Fest des Lebens und Neuanfangs und die Kinder dann freudig erzählt haben, dass auch sie in ihren Religionen ein Fest des Lebens und Neuanfangs kennen. In den verschiedensten Gesprächen gelangen wir am Ende trotz unterschiedlicher Sprachen meist bei gemeinsamen Werten und Anliegen – das ist im wahrsten Sinne des Wortes wertvoll.

 

>> Die Fresh X Theorie benennt einen Reiseweg: Hören, dienen, Gemeinschaft entsteht, Gemeinde bildet sich. Oft haben wir diese Schritte bisher als linearen Weg gelesen. Erst kommt das Eine, dann das Nächste. Aber jetzt wissen wir: All das passiert gleichzeitig und in Schleifen. All diese Schritte haben wir jetzt schon durchlaufen und werden sie noch einmal neu gehen.

Wir haben hingehört, das Quartier mit seinen allgemeinen Herausforderungen und Träumen kennen gelernt. Jetzt hören wir stärker auf das, was Einzelne beschäftigt.

Wir dienen mit unserer Mitarbeit, zum Beispiel im Kidsklub und auf dem Spielplatz. Jetzt denken wir stärker nach über konkrete Projekte und Ressourcen, die wir einbringen können.

Wir sind in Gemeinschaft mit den Kindern vor Ort, mit unserem Pfarreiteam, mit anderen Akteuren im Netzwerk. Jetzt wünschen wir uns, dass sie sich auch untereinander noch mehr begegnen.

Wir erleben Gottes-Momente, wenn wir über unsere Religionen und Glaubenswege ins Gespräch kommen oder ein seelsorgerliches Gespräch führen. Jetzt wollen wir noch bewusster Raum gestalten, wo so etwas möglich sein kann.

 

Nach einem halben Jahr grüßt uns nun täglich so etwas wie Alltag. Aber ein Alltag, der aufregender nicht sein kann. Wir spüren, dass hier etwas passiert, aber wir wissen (noch) nicht, wie groß das noch werden wird. Wir freuen uns auch weiterhin darauf morgens erwartungslos in den Tag zu starten und abends überrascht und staunend zurückzukehren – denn Gott ist immer schon da. Und die Nutrias auch.